Donnerstag, 2. Mai 2013

Aus dem Dschungel, in den Dschungel

Eine unerwartete Begegnung

Es gibt Geschichten die einfach zu schreiben sind, weil man sie schon hundert mal erzählt hat. Sie sind fertig und warten nur darauf abgetippt zu werden. Das nun folgende ist so eine Geschichte. Entstanden aus nur einem kurzen Augenblick einer Begegnung. Ein Moment in dem ein ganzer Film abläuft. Man kann solche Situationen nicht vorhersehen oder konstruieren, sie treffen einen an den verschiedensten Plätzen und zu willkürlichsten Zeiten. Man kann aber die Wahrscheinlichkeit darauf erhöhen. Wenn man Glück hat, wird man dann für ein paar Sekunden ein Teil von etwas unwirklichem. Man sieht es, man spürt es, aber begreifen kann man es nicht bevor, ein paar Augenblicke später, der Zauber vergangen ist und mit dem fallenden Vorhang, die Normalität zurück ins Leben tritt.


Besondere Orte mit außergewöhnlichen Möglichkeiten sind gewöhnlich das Rezept. Man nehme beispielsweise Nepal, einen Dschungel mit Tigern, Elefanten, Nashörnern, Krokodilen und Bären und dazu die Möglichkeit zu Fuß darin herumzulaufen. Fertig ist der Eintopf, Geschmacksrichtung: Abenteuer. Genau deshalb bin ich nach Sunauli gefahren. Ein kleiner Ort am Rande des Chitwan-Nationalpark im Süden Nepals, kurz vor der Grenze zu Indien. Getrennt von einem Fluss befinden sich eine Einkaufstraße und angenehme Bungalowanlagen direkt am Rand des Dschungels. Mit einem andern Deutschen und zwei Guides, was Vorschrift ist, geht es am nächsten Morgen zu Fuß in den Wald um Wildtieren nachzustellen. Alles ungefährlich, behaupten unsere Führer. Tiger und Elefanten sind scheu und halten sich meist tiefer im Wald verborgen. Vor Nashörnern kann man, falls nötig, davonlaufen oder auf Bäume klettern. Krokodile? Einfach, von Flüssen fernhalten. Das gefährlichste Tier in dieser Gegend sei sowieso der Sloth-Bär. Gemeine und ziemlich aggressive Tiere. Kein davonlaufen hilft, denn sie sind schneller als der Mensch. Auch kein klettern, das können sie auch. Die Männchen greifen immer das Gesicht an, denn das mögen sie nicht. Die Weibchen entscheiden sich dagegen meist für den Unterleib. Die Verteidigung: Man muss ihnen Angst machen. Das ist nicht so einfach, denn wie gesagt, es sind ziemlich gemeine Tiere. Genau die Art die man gerne trifft wenn man, in kleiner Gruppe und nur mit Stöcken ausgerüstet, durch unübersichtliches Gelände stapft.

Die Worte dieses ersten Briefings hallen mir noch durch den Kopf, als ich den restlichen Nachmittag damit verbringe mit einem Spaziergang die Umgebung, entlang des Flusses, zu erkunden. In Gedanken sehe ich mich bereits auf einem Baum sitzen, während ein wütendes Nashorn derweilen  den Stamm umkreist und plötzlich ein Slothbären Weibchen neben mir in der Baumkrone erscheint, sabbernd und auf meine Leistengegend starrend. Zum Glück reißt mich eine Gruppe Elefanten die, von ihren Führern geleitet, an mir vorbeiziehen aus meinen Gedanken. Die Straße führt hinaus aus Sunauli, durch einen offenen Durchgang in einem hohen Zaun am Rande des Ortes. Das Schild  davor ist nur in Nepalesisch geschrieben und es kümmert mich auch nicht, da einige Nepalesen sich davon offensichtlich auch nicht abhalten lassen, hier unterwegs zu sein. Nach kurzer Zeit laufe ich durch kleine malerische Dörfer mit strohgedeckten Lehmhütten in denen ich stets von Kindern umringt bin. Das Dorf im Dschungelbuch, als Mogli zu den Menschen kommt, genau so sieht es hier aus. Ich blicke zum anderen Ufer und rechne fest damit, dass er in seiner roten Unterbuchse geradewegs aus dem Dschungel spaziert. Leider werde ich aber enttäuscht.

Nach einer längeren Pause an einer ruhigen Stelle am Flussufer, bei der ich die untergehende Sonne dabei beobachte wie sie im Dschungel verschwindet, beschließe ich mich auf den Rückweg zu machen. Ich laufe auf einer Straße durch ein kleines Waldstück, der Blick auf das Flussufer ist verwehrt. Plötzlich fährt ein Mann auf einem Fahrrad an mir vorbei und ruft aufgeregt „Rhino, Rhino“. Er hat ein Nashorn gesehen? Ich folge ihm neugierig. Wir kommen zu einer Stelle an der dass Waldstück endet und den Blick auf das andere Flussufer freigibt. Doch der Mann blickt nicht auf die andere Seite. Er versucht stattdessen einen besseren Einblick auf das Ufer auf unserer Seite zu bekommen. "Rhino! Rhino!" Er deutet auf den Wald und führt weiter aus, „Came over river, in the trees, now!“ So sehr ich mich jetzt natürlich anstrenge ein kletterndes Nashorn zu sehen, unsere Position ist zu schlecht um viel vom Ufer zu überblicken. Wie mir kurz darauf auffällt sitzt man hier zudem auf dem Präsentierteller, sollte sich ein Nashorn in dem kleinen Waldstreifen zwischen Ufer und Straße auf der Lauer befinden. Ich kehre schnellstmöglich zur Straße zurück. Genau im selben Moment indem ich wieder einen Blick auf das bereits durchquerte Waldstück habe, macht es Klick. Der Film läuft ab.

Knappe dreißig Meter entfernt bricht ein grauer Koloss durch Dickicht und Zaun. Ein riesiges Monster von einem Nashorn, das mit gewaltigen Stampfern die Straße im Laufschritt überquert. Alles wirkt wie in einer Zeitlupe. Menschen verharren regunglos, alles steht still, nur das Nashorn nicht. Ewig verlangsamte Sekundenbruchteile später ist es wieder im grünen Dickicht verschwunden. Anschließend wird mittels Beschleunigung die verlorene Zeit wieder aufgeholt. Das Chaos bricht aus. Kinder laufen schreiend an mir vorbei und werden von denen mit Fahrrad, ebenfalls schreiend, überholt. Jeder macht sich schleunigst aus dem Staub. Es macht wieder Klick. Auch wenn der graue Riese nicht in meine Richtung unterwegs war, vielleicht ist das gar keine schlechte Idee. Der Vorhang ist gefallen, der Film ist vorbei.

Und damit sind wir am Ende der Geschichte angelangt. Der eigentliche Dschungelausflug am nächsten Tag wird nicht einmal erwähnt. Er wäre eine gute Verlängerung. Unsichtbare Tiger und sichtbare Krokodile kommen darin vor. Zudem Informationen die sicher nützlich wären, hätte man eines Tages vor, sich auf fünf Meter an ein badendes Nashorn anzuschleichen. Doch das alles wurde ersatzlos gestrichen, denn wenn ich davon erzähle ernte ich nur höflich nickende Kopfbewegungen oder Sätze wie „so,so ein zweites Nashorn, spannend...“ Mit dem Vorhang ist auch der Spannungsbogen gefallen. Keiner hört mehr zu.

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