Eine
unerwartete Begegnung
Es gibt
Geschichten die einfach zu schreiben sind, weil man sie schon hundert mal erzählt hat. Sie sind fertig und warten nur darauf abgetippt zu werden.
Das nun folgende ist so eine Geschichte. Entstanden aus nur einem
kurzen Augenblick einer Begegnung. Ein Moment in dem ein ganzer
Film abläuft. Man kann solche Situationen nicht vorhersehen oder
konstruieren, sie treffen einen an den verschiedensten Plätzen und
zu willkürlichsten Zeiten. Man kann aber die Wahrscheinlichkeit darauf
erhöhen. Wenn man Glück hat, wird man dann für ein paar Sekunden
ein Teil von etwas unwirklichem. Man sieht es, man spürt es, aber
begreifen kann man es nicht bevor, ein paar Augenblicke später, der
Zauber vergangen ist und mit dem fallenden Vorhang, die Normalität
zurück ins Leben tritt.
Besondere Orte
mit außergewöhnlichen Möglichkeiten sind gewöhnlich das Rezept.
Man nehme beispielsweise Nepal, einen Dschungel mit Tigern,
Elefanten, Nashörnern, Krokodilen und Bären und dazu die
Möglichkeit zu Fuß darin herumzulaufen. Fertig ist der Eintopf,
Geschmacksrichtung: Abenteuer. Genau deshalb bin ich nach Sunauli
gefahren. Ein kleiner Ort am Rande des Chitwan-Nationalpark im Süden
Nepals, kurz vor der Grenze zu Indien. Getrennt von einem Fluss
befinden sich eine Einkaufstraße und angenehme Bungalowanlagen
direkt am Rand des Dschungels. Mit einem andern Deutschen und zwei
Guides, was Vorschrift ist, geht es am nächsten Morgen zu Fuß in
den Wald um Wildtieren nachzustellen. Alles ungefährlich, behaupten
unsere Führer. Tiger und Elefanten sind scheu und halten sich meist
tiefer im Wald verborgen. Vor Nashörnern kann man, falls nötig,
davonlaufen oder auf Bäume klettern. Krokodile? Einfach, von Flüssen
fernhalten. Das gefährlichste Tier in dieser Gegend sei sowieso der
Sloth-Bär. Gemeine und ziemlich aggressive Tiere. Kein davonlaufen
hilft, denn sie sind schneller als der Mensch. Auch kein klettern,
das können sie auch. Die Männchen greifen immer das Gesicht an,
denn das mögen sie nicht. Die Weibchen entscheiden sich dagegen
meist für den Unterleib. Die Verteidigung: Man muss ihnen Angst
machen. Das ist nicht so einfach, denn wie gesagt, es sind ziemlich
gemeine Tiere. Genau die Art die man gerne trifft wenn man, in
kleiner Gruppe und nur mit Stöcken ausgerüstet, durch
unübersichtliches Gelände stapft.
Die Worte dieses
ersten Briefings hallen mir noch durch den Kopf, als ich den
restlichen Nachmittag damit verbringe mit einem Spaziergang die
Umgebung, entlang des Flusses, zu erkunden. In Gedanken sehe ich mich
bereits auf einem Baum sitzen, während ein wütendes Nashorn derweilen den
Stamm umkreist und plötzlich ein Slothbären Weibchen neben mir in
der Baumkrone erscheint, sabbernd und auf meine Leistengegend
starrend. Zum Glück reißt mich eine Gruppe Elefanten die, von ihren
Führern geleitet, an mir vorbeiziehen aus meinen Gedanken. Die
Straße führt hinaus aus Sunauli, durch einen offenen Durchgang
in einem hohen Zaun am Rande des Ortes. Das Schild davor ist
nur in Nepalesisch geschrieben und es kümmert mich auch nicht, da
einige Nepalesen sich davon offensichtlich auch nicht abhalten
lassen, hier unterwegs zu sein. Nach kurzer Zeit laufe ich durch
kleine malerische Dörfer mit strohgedeckten Lehmhütten in denen ich
stets von Kindern umringt bin. Das Dorf im Dschungelbuch, als Mogli
zu den Menschen kommt, genau so sieht es hier aus. Ich blicke zum
anderen Ufer und rechne fest damit, dass er in seiner roten
Unterbuchse geradewegs aus dem Dschungel spaziert. Leider werde ich aber
enttäuscht.
Nach einer
längeren Pause an einer ruhigen Stelle am Flussufer, bei der ich die
untergehende Sonne dabei beobachte wie sie im Dschungel verschwindet,
beschließe ich mich auf den Rückweg zu machen. Ich laufe auf einer
Straße durch ein kleines Waldstück, der Blick auf das Flussufer ist
verwehrt. Plötzlich fährt ein Mann auf einem Fahrrad an mir vorbei
und ruft aufgeregt „Rhino, Rhino“. Er hat ein Nashorn gesehen?
Ich folge ihm neugierig. Wir kommen zu einer Stelle an der dass
Waldstück endet und den Blick auf das andere Flussufer freigibt.
Doch der Mann blickt nicht auf die andere Seite. Er versucht stattdessen einen
besseren Einblick auf das Ufer auf unserer Seite zu bekommen. "Rhino!
Rhino!" Er deutet auf den Wald und führt weiter aus, „Came over
river, in the trees, now!“ So sehr ich mich jetzt natürlich
anstrenge ein kletterndes Nashorn zu sehen, unsere Position ist zu
schlecht um viel vom Ufer zu überblicken. Wie mir kurz darauf auffällt
sitzt man hier zudem auf dem Präsentierteller, sollte sich ein
Nashorn in dem kleinen Waldstreifen zwischen Ufer und Straße
auf der Lauer befinden. Ich kehre schnellstmöglich zur Straße zurück. Genau im selben Moment indem ich wieder einen Blick auf das bereits durchquerte
Waldstück habe, macht es Klick. Der Film läuft ab.
Knappe dreißig Meter
entfernt bricht ein grauer Koloss durch Dickicht und Zaun. Ein
riesiges Monster von einem Nashorn, das mit gewaltigen Stampfern die
Straße im Laufschritt überquert. Alles wirkt wie in einer Zeitlupe.
Menschen verharren regunglos, alles steht still, nur das Nashorn nicht. Ewig
verlangsamte Sekundenbruchteile später ist es wieder im
grünen Dickicht verschwunden. Anschließend wird mittels
Beschleunigung die verlorene Zeit wieder aufgeholt. Das Chaos bricht
aus. Kinder laufen schreiend an mir vorbei und werden von denen mit
Fahrrad, ebenfalls schreiend, überholt. Jeder macht sich schleunigst
aus dem Staub. Es macht wieder Klick. Auch wenn der graue Riese nicht
in meine Richtung unterwegs war, vielleicht ist das gar keine
schlechte Idee. Der Vorhang ist gefallen, der Film ist vorbei.
Und damit sind
wir am Ende der Geschichte angelangt. Der eigentliche
Dschungelausflug am nächsten Tag wird nicht einmal erwähnt. Er wäre
eine gute Verlängerung. Unsichtbare Tiger und sichtbare Krokodile
kommen darin vor. Zudem Informationen die sicher nützlich wären,
hätte man eines Tages vor, sich auf fünf Meter an ein badendes
Nashorn anzuschleichen. Doch das alles wurde ersatzlos gestrichen,
denn wenn ich davon erzähle ernte ich nur höflich nickende
Kopfbewegungen oder Sätze wie „so,so ein zweites Nashorn,
spannend...“ Mit dem Vorhang ist auch der Spannungsbogen gefallen.
Keiner hört mehr zu.
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