Montag, 6. August 2012

In die Wildnis

Der See Aidarkul

Ausgesetzt. An einem See mit dem klangvollen Namen Aidarkul. Namen sind eine Sache. Eine andere Sache ist, dass dieser See mitten in der Wüste liegt. Es ist Mittagszeit und brütend heiß. Im Umkreis von mehreren Kilometer keine Mensch, kein Haus und kein einziger, Schatten spendender, Baum. Aber das war genau dass was Polly und ich wollten. Raus aus den Städten. Nicht nur durch verschmierte Fensterscheiben von Zügen und Autos etwas von der Natur Usbekistans sehen. Ob das ganze Vorhaben gut durchdacht war, steht wiederum auf einem ganz anderem Blatt Papier.
 
Zwei Tage zuvor sitzen wir in einer jener Städte denen wir zu entkommen versuchen und studieren die Karte nach Möglichkeiten das Land weiter zu erkunden.
„Sieh, da im Norden ist ein ziemlich großer See“ sagt Polly mit, aus Abenteuerlust, glänzenden Augen.
„Sieht nett aus, aber ganz schön abgelegen“ sage ich, obwohl mir eigentlich schon klar ist wohin die Reise geht.
„Kein Problem, hinkommen per Anhalter, und dann dort am Ufer campen“ erwidert Polly, die sofort erkannt hat dass meine Einsprüche wohl eher minimal ausfallen.
„Wir haben kein Zelt“ ist der letzte Gedanke eines Zweifels den ich äußere. 
Gleichzeitig jedoch mit einem breiten Grinsen, wohl wissend dass ich mich nun für etwas rühmen kann für das mich Polly schon mehrmals aufgezogen hat. Die unzähligen, meines Erachtens nützlichen, aber dennoch selten benutzten, Dinge meines Rucksackes. Paradebeispiel: Ein Moskitonetz, welches sich in diesem Fall, falls nötig, auch als Zeltersatz verwenden lässt.

Und dann sind wir auch schon unterwegs. Zwischenstopp machen wir in der Pilgerstadt Naruta, von der wir am nächsten Morgen versuchen eine Mitfahrgelegenheit in Richtung Aidarkul zu ergattern. Dieser befindet sich abseits jeglicher Touristenrouten, öffentlicher Transport ist somit unmöglich. Wir finden schließlich einen blauen Kleintransporter der ein paar Einwohner eines Dorfes, in der Nähe des Sees, mit ihren Monatseinkäufen in dieses zurückbringt. Diese sind nachdem sie von unseren Plan erfahren haben zwar sichtlich verwundert, aber auch amüsiert, und beschließen den Umweg in Kauf zu nehmen um uns direkt am See abzusetzen. 
 
Nach drei Stunden, ohne jegliche Kurve, auf einer holprigen Teerstraße durch Steppe und Wüste, und weiteren 20 Minuten auf einer Staubpiste hält der Transporter dann am Ufer Aidarkuls. „Bitteschön, hier ist euer See", sagt der Fahrer mit breitem Grinsen als er uns unsere Rucksäcke in die Hand drückt. Uns kommen in diesem Moment die ersten Zweifel ob diese Exkursion wirklich eine gute Idee war. Der See liegt mitten im nirgendwo und wirkt nicht besonders einladend. Das Wasser am Ufer ist abgestanden, zudem übersät mit Algen und riecht dementsprechend. Der Fahrer gibt uns aber noch den Hinweis dass der See besser wird wenn wir etwas entlang des Ufers gehen. Wir wandern also ein paar Kilometer und finden während unseres Weges so ziemlich alles was den schlechten Eindruck noch unterstreichen kann. Mehrere Knochenschädel von Pferden. Sträucher die komplett von Spinnennetzen eingehüllt sind. Einige ausgehöhlte Panzer von kleinen Schildkröten. Spuren und abgestreifte Häute von, nicht gerade kleinen, Schlangen. Pfützen mit abgestandenem Wasser welches von unzähligen Moskitos belagert wird. Und immer wieder mehrere leere Wodka Flaschen. Es ist wohl wirklich besser sich etwas weiter vom Anfang des Sees zu entfernen. Unsere Lust den Abend fern jeglicher Zivilisation mit mofafahrenden, sturzbetrunkenen Usbeken zu verbringen hält sich in Grenzen.

Als der See breiter wird ändert sich zwar nicht das lebensfeindliche Ufer, aber der See selbst wird einladender. Neben zwei Fischerbooten beschließen wir unser Lager aufzuschlagen. Mithilfe eines Bootes, und dessen Paddel, errichten wir eine Schatten spendende Konstruktion und verbringen dort und im Wasser die heißesten Stunden des Tages. Den dadurch entstehenden Sonnenbrand werden wir noch lange verfluchen. Als es Abend wird, und wir unsere Schattenkonstruktion mithilfe des Moskitonetzes in einen vor Moskitos und anderem Getier geschützten Schlafplatz umwandeln wollen, vernehmen wir Motorengeräusche. Ein einzelnes Mofa kommt angefahren. Der Besitzer des Mofas ist sichtlich erstaunt als er die zwei campende Touristen neben seinem Boot bemerkt. Er nutzt die kühleren Abendstunden um seine vorher verrichteten Reparaturarbeiten am Bug zu überprüfen. Glücklicherweise ist es nicht das Boot welches wir als tragenden Bestandteil unserer Unterkunft verwenden.

Er klopft das, auf dem Rücken liegenden, Boot mit einem Stock ab. Auf Nachfrage erfahren wir den Grund: Er vermutet das sich darunter Schlangen befinden. Soweit hatten wir nicht gedacht. Diese normalerweise für Menschen nicht tödlichen, aber mit äußerst schmerzhaften Gift ausgestatteten, Schlangen sind am Aidarkul, aufgrund ihrer großen Anzahl, eine regelrechte Plage. Als er das Boot dann schließlich umdreht befinden sich darunter tatsächlich zwei Schlangen. Beide etwa einen halben Meter lang. Sichtlich unerfreut über die Störung ihrer Ruhe richten sie ihre Köpfe auf und denken gar nicht daran das weite zu suchen. Mithilfe eines langen Stockes wirft der Fischer die beiden giftigen Schlangen ein paar Meter durch die Luft. Eine wird darauf etwas wütend und greift den Fischer direkt an. Dieser greift unbeeindruckt zum Paddel und will sich des Problems damit entledigen. Es dauert mehrere Schläge. Währenddessen beobachte ich die zweite Schlange die nach ihrem kurzem Flug die bessere Variante wählt und schnurstracks den Weg zum nächstbesten, vorerst sicheren, Platz findet. Das zweite Boot. Unser Boot. Nur etwa einen halben Meter vom angedachten Schlafplatz entfernt.

Kurz darauf hat der Fischer sein Boot im Wasser getestet. Er verabschiedet sich und braust auf seinem Mofa davon. Zurück bleiben wir, kurz vor Anbruch der Nacht und dem Problem dass sich eine gereizte Schlange irgendwo, nur eine Armlänge von unseren Schlafsäcken entfernt befindet. Inzwischen möglicherweise auch direkt darunter. Es bedarf einer schnellen Lösung. Vorsichtig, und Stück für Stück, bauen wir unsere Konstruktion wieder ab und legen jedes Teil einzeln, einige Meter entfernt ab. Schließlich heben wir das Boot an. Dabei entdecken wir die Schlange welche sich in einer kleinen Mulde versteckt hielt und sich nun aufgerichtet auf mich zu bewegt. Wie der Fischer greife ich zu einem Stock und schicke die Schlange auf einen Kurzstreckenflug. Doch wie zuvor kommt sie wieder angekrochen und versucht sich wieder unter dem Boot zu verstecken. Dieser Vorgang wiederholt sich einige Male. Ich blicke zu Polly und uns beiden ist klar dass das Problem so nicht zu lösen ist. Hier neben der Schlange zu schlafen ist keine Option. Mit einem Zelt wäre die Sache wesentlich einfacher, unsere Moskitonetz-Konstruktion zum Boden hin abzudichten ist jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Den Schlafplatz zu verlegen ist aufgrund der anbrechenden Nacht auch keine Option, wer weiß wie viele Schlangen sich dort befinden würden. Schließlich, und schweren Herzens, beschließen wir uns am Beispiel des Fischers zu richten. Ich greife zum Paddel. Es soll kurz und schmerzlos vonstatten gehen. Langsam und vorsichtig bewege ich mich auf die, sich in Lauerstellung befindliche, Schlange zu. Es wird kurz und schmerzlos, der erste Stoß trifft direkt den Kopf der Schlange.

Von der Schlangengefahr erlöst errichten wir wieder unsere Unterkunft. Kurz darauf ist es stockdunkel. Mit der Nacht kommen Millionen von Moskitos zum Ufer. Zu Beginn werden sie noch von ebenso unzähligen Libellen gejagt. Die Kombination von surrenden Moskitos und Libellen, die immer wieder aneinander stoßen, erzeugen ohrenbetäubenden Lärm. Schließlich sind die Libellen satt und lassen uns mit den Moskitos zurück. Doch Moskitonetz und Insektenspray bewähren sich in dieser Nacht. Nur vereinzelt finden einige Moskitos und ein paar Spinnen den Weg durch die Maschen. Anderenfalls wäre Schlaf hier absolut unmöglich. Dennoch erwachen wir mehrmals und müssen unser Behelfszelt ausbessern. Aufgrund unseres Kampfes gegen die Insektenplage fällt es uns schwer, uns am absolut klarem und rückblickend gesehen traumhaften, Sternenhimmel der Wüste zu erfreuen. Am nächsten Morgen erwachen wir gerädert und sind dennoch einfach froh die Nacht überstanden zu haben. Über die Entscheidung, einen zweiten Tag (und vor allem eine zweite Nacht) hier zu verbringen, wird nicht gesprochen. Kurz nach dem Sonnenaufgang befinden wir uns bereits wieder auf dem Weg entlang des Ufers der uns nach einigen Kilometern wieder zur rettenden Straße führt.

Das Nichts per Anhalter zu verlassen erweist sich als schwierig, da im Nichts nun mal wenige Autos verkehren. Wieder einmal danke ich der, manchmal absurden, Organisationsorgie der Sowjets. Mitten im Nichts eine schattenspendende, rettende, gemauerte Bushaltestelle. Das nächste Dorf ist in Sichtweite und dennoch einige Kilometer entfernt. Schwer vorzustellen wie hier vor mehr als 20 Jahren noch menschenleere Busse durch die Wüste tingelten. Nach einiger Zeit bemerken wir einen blauen Kleintransporter am Horizont . Er kommt uns verdächtig bekannt vor. Als er uns schließlich erreicht, grüßt uns der selbe Fahrer welcher uns am Vortag, wohl wissend grinsend, in unser Abenteuer geschickt hatte. Dieses mal sind die Passagiere jedoch andere. Ein einzelner älterer Mann und ca. 20 Schafe für die der Fahrer die Sitzreihen im Rückraum entfernt hat. Unsere Rucksäcke werden aufs Dach gebunden und kurz darauf befinden wir uns gemeinsam auf dem Rückweg in die Zivilisation.

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